
Film © Michael Lauter | 2024
Andrea Niessen ist als Objektkünstlerin in verschiedenen Bereichen tätig. Die Bandbreite ihrer Arbeitsweise ist vielfältig, wie sich beispielsweise in Arbeiten zeigt, in denen sie sich mit dem menschlichen Haar beschäftigt.
Haare sind bedeutsame Informationsträger. Haare geben Auskunft über unsere Herkunft, unseren Lebensstil, unsere DNA. Umfassender als die Seiten eines Tagebuchs kann eine Bürste mit Haaren Auskunft über den Menschen geben. Mit ihrer Werkreihe „A very personal diary“ versucht Andrea Niessen den Menschen mit seinen Haaren einzufangen. Der Raum um uns herum kann physisch, emotional und mental sein.
Physisch betrachtet ist der Raum der Bereich, in dem wir uns bewegen und existieren. Räume stehen für Schutz und Geborgenheit. In einer eigenen Werkreihe schafft Andrea Niessen Räume aus menschlichem Haar, dass sie im privaten Rahmen, bei Friseuren oder in Altenheimen sammelte. Dabei wird das Material zur Herausforderung, besonders, weil Haare ambivalente Botschaften vermitteln: Wenn menschliches Haar verarbeitet wird, stellt sich einerseits ein Gefühl von Vertrautheit, andererseits aber auch Ekel ein. In diesem Spannungsfeld bewegen sich die Räume, die von der Künstlerin geschaffen werden.
Werkgruppe HIRNGESPINSTE
Kleine Kabelbinder spielen in technischen Bereichen eine große Rolle. Ihre Knotenpunkte bieten immer wieder neue Einsatz- und Verbindungsmöglichkeiten. Wenn sie frei genutzt werden, können riesige amorphe Gebilde entstehen. Andrea Niessen experimentiert mit diesen Möglichkeiten, wobei jeder Knotenpunkt ihr neue Optionen bietet: Ja, Nein, Vielleicht?
Hans-Jürgen Herschel erinnern die Gespinste der Künstlerin an die neuroyalen Strukturen unseres Gehirns und an das Geflecht der Synapsen, für ihn sind es Gespinste, die eine organisch wirkende Formation von tausenden leblosen Kabelbindern bilden, von lebendiger Hand aneinander geknüpft und immer noch im Wachsen begriffen. Die Grenze zwischen Ordnung und Unordnung scheint hierbei in Richtung Chaos überschritten, aber wir erkennen uns, in dieser ungeordneten Struktur, vielleicht gerade deshalb wieder. Alles ist möglich und denkbar. Der Vergleich zwischen den Gebilden und unseren Denkmustern und Verwirrungen ist gewollt, aber selbst komplizierte Vernetzungen können letztlich nur symbolisch für unserer Denkprozesse stehen. Für Andrea Niessen bietet die zweifarbige Variante zudem eine hervorragende Möglichkeit, Polaritäten darzustellen. Die bipolare Struktur ist nicht exakt trennbar, aber in den Clustern deutlich.
Der Westwall, von den Alliierten Siegfriedlinie genannt, wurde vor dem Zweiten Weltkrieg gebaut. Diese in der Landschaft der Eifel noch immer präsente Verteidigungslinie gab der Künstlerin den Anstoß zu diesem Projekt. Die Drachenzähne, in die Landschaft gegossene Panzersperren, stehen für Andrea Niessen exemplarisch für alle Strukturen der Abwehr des Fremden, des Bedrohlichen in der Welt. Kann die Wahl des Materials eine Sensibilität ausdrücken? Andrea Niessen hat das Thema „Drachenzahn“ immer wieder neu aufgegriffen und hierbei unterschiedlichste Materialien verwendet. Zwar reichen die Anfänge der Beschäftigung der Künstlerin mit diesen Relikten einer kriegerischen Verteidigungslinie weiter zurück, sie sind aber seit dem Ausbruch neuer kriegerischer Auseinandersetzungen in Europa von ganz aktueller Bedeutung.